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Die Mauer der Katalanen

© Rainer Jordan

Vor kurzem fühlte ich mich bei einem Interview erstaunlich berührt, als ich zum Fall der Berliner Mauer gefragt wurde. Ich war gerade mal ein Teenager, als jener historische Moment nicht nur den Atlas Europas, sondern auch das Leben vieler Deutschen schlagartig veränderte. In weniger als einem Jahr verwandelten sich die gehorsamen Aufmärsche in Pionieruniform am Tag der Arbeiter zu Demonstrationen im Schweigen, die die sozialistische Rechtsordnung herausforderten und in wenigen Wochen zu einer gigantischen Welle anwuchsen, die nicht einmal eine vier Meter hohe Mauer aus solidem Stein und Stacheldraht aufhalten konnte. Damals lernten wir Deutschen, dass eine Mauer ein Konstrukt aus Steinen ist, das man nicht nur bauen, sondern auch einreißen kann. Und dass dies vor allem eine Frage des Willens ist.


Doch kommen wir zurück zum Interview. Tagelang grübelte ich, warum ein Ereignis, das ich schon für vergessen gehalten hatte, mich plötzlich aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Inzwischen leben wir Ossis wie alle Deutschen, teilen die gleichen Sorgen, und viele Bekannte aus meiner Kindheit wollen nichts mehr von der DDR wissen – als ob es sich um einen Alptraum handele, den man nach dem Aufwachen so schnell wie möglich vergessen will. Trotz allem bin ich mir sicher, dass bei vielen Deutschen die Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Leben hervorruft. In meinem Fall konnte ich dank dieser glücklichen Fügung meinen persönlichen Wunsch umsetzen: frei sein. Was bedeutete das nun aber genau? Ich könnte sicherlich viele Dinge aufzählen, die sich in unserem Alltag nach dem 9. November verbesserten. Aber eigentlich kann man sie alle in einem Satz zusammenfassen: Frei sein bedeutete, meine eigenen Entscheidungen treffen zu können.


Inzwischen lebe ich in Barcelona. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich sehr viele Balkons, die mit der Unabhängigkeitsflagge geschmückt sind. Und jede Woche werden es mehr. Die Menschen tragen gelbe und rote T-Shirts auf den Straßen und versammeln sich zu tausenden, um auf friedliche Weise ihrer Forderung in Spanien und in Europa Gehör zu verschaffen: Sie wollen ihre Entscheidung treffen. Die spanische Regierung verbietet den Katalanen aber einen Urnengang zur Frage der Selbständigkeit. Sie versteckt sich hinter der Verfassung, um den Katalanen den Weg in die Selbständigkeit und Freiheit wie mit einer Mauer unmöglich zu machen. Ich bin also zu der Erkenntnis gelangt, dass ich gerade ein Dejà-vu erlebe. Daher kann ich mir inzwischen relativ ungerührt die leeren Reden von staatlichen Vertretern anhören, die wenig staatliche Größe und Weitsicht beweisen, während sie behaupten, die Interessen aller Spanier zu verteidigen. Sie erinnern mich an die Reden von Menschen, die wissen, dass der Fall der Mauer naht, die sie selbst errichtet haben und nicht in eine Brücke zu verwandeln wussten, und die versuchen, durch Drohungen und falsch verstandene Demokratie eine Niederlage um jeden Preis zu verhindern. Allerdings akzeptieren die Bürger diese Umstände irgendwann nicht mehr ohne empirische Beweise. Als ich am 9. November aus der Schule kam, empfing mich mein Bruder mit den Worten: „Die Mauer ist gefallen.“ Meine erste Reaktion war: „Das ist nicht möglich.“ Aber das war es dann schließlich doch.

Krystyna Schreiber

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