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Til Stegmann: Diskurs „Mehrheiten in der Demokratie“

Mehrheiten in der Demokratie

Tilbert Dídac Stegmann

Estimats amics i amigues catalans, liebe Katalonienfreunde – solche, die es schon sind oder die es noch werden wollen. Wie jeder überall in den Zeitungsberichten erfährt, sind die Katalanen offenbar nicht zufrieden mit den Bedingungen, unter denen sie im spanischen Staat leben. Sie sind nicht nur nicht zufrieden ; sie wollen sogar gänzlich mit Spanien brechen und eine neue Zukunft in Unabhängigkeit gestalten. Warum? Es gibt ein paar Gründe, die nicht jedem offensichtlich sind, und in die man sich hineindenken muss, um die Situation zu verstehen. Auf einen dieser Gründe möchte ich unter dem Titel « Mehrheiten in der Demokratie » eingehen.

Das demokratische Grundprinzip heißt « eine Person – eine Stimme », also Frauen, Männer, Arme, Reiche, bekannte Leute oder einfache Bürger etc. etc. – jeder und jede hat bei Wahlen e ine Stimme. Das ist die große Errungenschaft der modernen Demokratien. Dieses Prinzip geht davon aus, dass die Entscheidung jedes Bürgers und jeder Bürgerin den gleichen Respekt verdient. Auf diese Weise bilden sich Mehrheiten – die natürlich wechseln. Einmal gewinnt e ine Lösung, weil sie die meiste Unterstützung, also Akzeptanz, gewonnen hat und die entsprechende Partei gibt die politische Linie vor ; ein andermal gewinnt eine andere Lösung durch eine andere Mehrheit die Oberhand. Das zeigt das Bemühen oder den Kampf der menschlichen Gesellschaft für ihr Zusammenleben, für ihre soziale Existenz, jedes Mal die vernünftigsten und möglichst gerechtesten Lösungen zu finden. Das ist nicht leicht, aber das systematische Bestreben geht doch in diese Richtung.

Allerdings wird dieses Bemühen um stete Verbesserung des Zusammenlebens zunichte gemacht, wenn sich Mehrheiten verewigen und damit auch Minderheiten verewigen. So wie es der Fall im spanischen Paralemnt ist. Allein durch die bevölkerungsmäßíge Überzahl stehen 7 bis 11 Millionen Katalanen bzw. Katalanischsprachigen etwa 35 bis 39 spanischsprachige Spanier gegenüber. Rein demographisch besteht also eine unveränderbare spanische Mehrheit und eine auf ewig zementierte katalanische Minderheit. Um diese ungerechte Situation zu mildern gibt es die Übertragung der Entscheidungskompetenzen an regionale Landtage oder Parlamente, damit dort alle Entscheidungen getroffen werden können, die das Leben der entsprechenden Minderheiten betreffen. Es handelt sich um das Prinzip der Subsidiarität, das vorschreibt, dass alle Verwaltungsentscheidungen so weit unten wie irgend möglich, also so nah am Bürger wie möglich, angesiedelt sein und entschieden werden sollen. Das ist der Fall bei Städten und Gemeinden, die durch lokale Mehrheiten entscheiden, was für die Bevölkerung die richtigste Lösung ist, oder jedenfalls in der momentanen Situation am angemessensten ist. Und Lösungen, die sich als weniger angemessen erweisen, können jederzeit – und insbesondere nach einem Wahltermin – durch neue Lösungen, die eine breiteren Konsens finden abgelöst werden. Und die benachbarte Kommune oder ein Landesparlament, kann eine andere Lösung vorziehen oder zumindest ausprobieren, weil wir alle wissen, dass es nicht immer nur eine richtige oder passende Lösung gibt. Das Prinzip der Subsidiarität, also der Stärkung der Selbstverwaltung ist das pluralistische Gegenprinzip gegen den staatlichen Uniformismus, der entsteht, wenn sich systematisch unverrückbare Mehrheiten ausbilden.

Das Prinzip der Subsidiarität wurde auch in die spanische Verfassung aufgenommen, indem man dem Vorbild der deutschen und der österreichischen Nachkriegsverfassung folgen wollte, die ja unter den wachsamen Augen der Allierten, also der Amerikaner, Engländer und Franzosen, entstand, um Deutschland von den nationalsozialistischen Strukturen zu lösen. Das hat Deutschland gut getan. Ebenso sollte die spanische Verfassung dafür sorgen, dass sich Spanien von den uniformistischen, zentralistischen Strukturen der vorhergehenden franquistischen und bourbonischen Diktatur lösen konnte.

Leider ist das nicht gelungen. Eine große Enttäuschung für die Katalanen. Den Verfassern der spanischen Verfassung war nicht genügend deutlich, dass je mehr Entscheidungsrechte nach unten abgegeben worden wären, um so mehr Garantien für ein friedliches Zusammenleben der Nationen im Vielvölkerstaat Spanien geschaffen worden wären. Man beschränkte sich auf die Übertragung der « klassischen » Bereiche, also Kultur, Schulwesen, Gesundheit, Stadtplanung, aber es blieben auch hier immer noch starke Möglichkeiten staatlicher Eingriffe. Eine wirkliche Abwicklung der staatlichen Ministerien, die nun ohne Arbeit blieben, fand nicht statt. Die Madrider Funktionäre wurden weiterbeschäftigt. Und selbst die Verfügungen zur Übertragung waren so mehrdeutig formuliert, dass sie im weiteren Verlauf genutzt werden konnten, um die Dezentralisierungspläne des Beginns wieder zurückzufahren. Diese anfänglichen Pläne, direkt nach dem Tod des Diktators Franco, stellten sich nur als Mittel heraus, den Katalanen eine Möglichkeit eines Zusammenlebens auf gleicher Augenhöhe mit den Spaniern zu suggerieren, wenn nicht vorzugaukeln. Denn schon bald nach Annahme der neuen spanischen Verfassung gerieten die vorgesehenen Übertragungen ins Stocken oder wurden arglistigerweise ohne die dazugehörigen Übertragungen eines finanziellen Budgets vorgenommen. Heute hat die regierende Partei das spanische Verfassungsgericht in eine Art Befehlsempfänger der spanischen Regierung verwandelt, der alle juristischen Möglichkeiten nutzt, um die Schwachstellen der spanischen Verfassung im Sinne einer Rezentralisierung auszulegen. Der spanische Erziehungsminiter, den es laut Verfassung garnicht geben dürfte (wie in Deutschland), hat öffentlich erklärt, dass er mit seinen Gesetzen zum Schulwesen «die Katalanen wieder in Spanier» verwandeln will.

Heutzutage, wie Ferran Requejo, Profesor für Politikwissenchft an der Universität Pompeu Fabra richtig sagt, ist die «kulturelle und nationale Freiheit» ein essenzieller Indikator für die «demokratische Qualität» einer Gesellschaft. Diese Freiheiten sind fundamental für die Entfaltung des Individuums und für seine Selbstachtung. Doch im heutigen Spanien wird die freie persönliche Entfaltung der Katalanen erstickt. Erstickt wird die Entwicklung der katalanischen Gesellschaft und Nation, bedrängt wird die katalanische Kultur und Sprache. Finanziell erstickt wird das ganze Land. Aber nicht nur das. Erstickt wird das Konzept und die Lebensvorstellung des Pluralismus insgesamt. Pluralismus ist ein entscheidender Wert für das Zusammenleben der modernen Gesellschaften. Das ist der herrschenden politischen spanischen Klasse nicht klarzumachen. Sie haben noch nicht verstanden, dass Kreativität und der Pluralismus der Ideen entscheidend für den Fortschritt der Gesellschaft sind. Und dass das Zusammenleben davon abhängt, dass man sich stets bewusst ist, dass man nie sicher sein kann, dass die eigenen Ideen die besseren oder gar die besten sind ; und dass vielleicht jemand anders die bessere oder gerechtere Lösung hat ; und dass man parallele, verschiedene Optionen, leben lassen muss, weil man sie vielleicht selbst einmal braucht. Und dass der Ausschluss von anderen nationalen und kulturellen Stimmen eine Demokratie herabmindert, wie ebenfalls Ferran Requejo betont. Die spanische politische Klasse merkt nicht, dass der staatliche Uniformismus ein Feind auch der ethisch-moralischen Entwicklung eines Landes ist und dass er das Gegenteil des Prinzips von Gleichheit und Freiheit ist. Die Auffassungen der Mehrheit werden zur Norm auch für die Minderheiten erhoben. Die partikulären Charakteristika der Katalanen werden als Bedrohung für Spanien herausgestellt. Die Katalanophobie, der Hass auf alles Katalanische, ist zur herrschenden Ideologie in Spanien geworden.

Es ist in dieser Situation nicht schwierig zu verstehen, dass die Katalanen sich aus dieser Zwangsehe mit Spanien befreien möchten, indem sie jetzt den diskreten Charme eines eigenen Staates ausprobieren wollen.

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